Newsartikel

„Aktuelle Risiken der diagnostischen Punktion“

Die pränatalmedizinische Beratung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen der diagnostischen Genauigkeit der zur Verfügung stehenden Verfahren (Sensitivität, Spezifität, positiver und negativer Vorhersagewert, methodische Grenzen) und ihrer Sicherheit. Dies wiegt umso mehr, als daß sich der Anteil von Risikoschwangerschaften von 34% im Jahr 1990 auf 73% im Jahr 2010 erhöht hat und 25% aller Schwangeren 35 Jahre oder älter sind. Im Vordergrund steht hier die Angst der Schwangeren einerseits vor einem kranken Kind, andererseits, daß sie durch die Anwendung von Pränatalmedizin falsch auffällig getestet und in der Konsequenz durch invasive Diagnostik eine Fehlgeburt eines gesunden Kindes erleiden könnte.

Im Fokus der Wahrnehmung möglicher kindlicher Erkrankungen stehen dabei genetische Störungen, namentlich besonders das Down-Syndrom. Dies ist insoweit bemerkenswert, als daß körperliche Fehlbildungen ausweislich der EUROCAT-Daten mit einer Prävalenz bei Geburt von rd. 3% fast 10x häufiger auftreten als genetische Störungen (0,4%). Bei 700.000 Geburten/Jahr in Deutschland bedeutet dies eine jährliche Frequenz angeborener Fehlbildungen von 21.000 (davon ¼ schwere, bei Geburt klinisch relevante Fehlbildungen = rd. 5000/Jahr) und eine Prävalenz genetischer Erkrankungen ab Geburt von 2800/Jahr. Letztere verteilen sich zu 50% (=1400/Jahr) auf die Trisomie 21, 20% (=560/Jahr) auf die Trisomie 18/13, 10% (=280/Jahr) auf gonosomale Störungen (X,Y), und immerhin knapp 20% (=560/Jahr) auf seltene genetische Erkrankungen. Hierzu zählen u.a. Mikrodeletionen und monogene Erbleiden.

Aktuelle Informationen zur Punktion

Die in den Aufklärungsbögen sowie in den Leit-und Richtlinien wie im Internet kommunizierten Risiken der invasiven Diagnostik stammen aus den späten 80er und frühen 90er Jahren. Sie sind sachlich vor dem Hintergrund eines modernen Punktionsverständnisses und einer modernen Punktionstechnik nicht mehr korrekt. Das eingriffsbedingte Abortrisiko bei der Amniozentese (AC) beträgt aktuellen Daten zufolge bei 1:1000. Es liegt damit um den Faktor 10 niedriger als in Internet ausgewiesen. Noch eindrucksvoller verhalten sich die Zahlen bei der Chorionzottenbiopsie (CVS): Dieses bewegt sich der aktuellen Datenlage zufolge mit kalkuliert 1 zu unendlich in Expertenhand faktisch bei 0%.

Hintergrund: niedriges Risiko bei Chorionzottenbiopsie

Die Logik, wieso die Chorionzottenbiopsie (=CVS, Plazentapunktion) in der modernen wissenschaftlichen Literatur (s. aktuelle Literaturliste unten) – im Einklang mit der klinischen Erfahrung – was den Blasensprung angeht, extrem risikoarm sein muß, erschließt sich, wenn man folgende biologische Fakten (Vergl. Schemazeichnung unten) nachvollzogen hat:

1. Das neue Leben setzt sich zusammen aus Kind (Fetus), Nabelschnur und Plazenta (Plazenta sonographisch = vorgeburtlich das größte kindliche Organ)

2. Nur der Fetus ist von der Eihaut (s. Schema: Rote Membran) als Begrenzung der Fruchtblase umgeben. Die Plazenta liegt ausserhalb der Fruchthöhle.

3. Bei der CVS wird die ausserhalb der Fruchthöhle gelegene Plazenta punktiert. Die Eihaut selbst bleibt unberührt: Es kann daher bei technisch korrekt durchgeführter CVS nicht zum Blasensprung kommen.

Dieses Wissen ist revolutionär: Es bedeutet für die Schwangere, daß sie ihren individuellen Wünschen gemäß das Ausmaß der diagnostischen Tiefe einer genetischen Diagnostik frei bestimmen kann, ohne sich um den Fortbestand der Schwangerschaft sorgen zu müssen. Für die Medizin umgekehrt bedeutet dies, daß bestehende Leit- und Richtlinien dringend angepasst werden müssen und bestehende Diskussionen zur Frage der Kassenleistung der verschiedenen pränatalmedizinischen Verfahren neu bewertet werden sollten.

Literatur chronologisch

2020

Martins AT, Francisco C, Correia H, Cohen Á: Monozentrische 10-Jahres-Fall-Kontroll-Studie an 1523 Patientinnen mit CVS. Das Fehlgeburtsrisiko in der CVS-Gruppe differierte nicht signifikant vom erwarteten patienten-spezifischen Risiko (3.2% vs 3%, p=0.7). Das CVS-bezogene Risiko für Fehlgeburt betrug damit 0,2% (= 1:500).

2019

Salomon SJ, Sotiriadis A, Wulff CB, Odibo A, Akolekar R: Systematischer Review und aktualisierte Meta-Analyse zu den eingriffsbedingten Abortrisiken bei Amniozentese (AC) und Chorionzottenbiopsie (CVS). In der Analyse von fast 64.000 AC und 13000 CVS fand sich im risikoprofil-adjustierten Vergleich bei der AC eine eingriffsbedingte Abortfrequenz von 0,12% (95% CI, −0.05 bis 0.30%) und bei der CVS von −0,11% (95% CI, −0.29 bis 0.08%) und damit keine signifikante Erhöhung der Fehlgeburtsrate im Vergleich zum natürlichen Hintergrundrisiko. Es gibt keinen Hinweis dafür, daß die CVS weniger sicher als die AC ist. Damit ist das Abortrisiko bei AC und CVS als vernachlässigbar bzw. faktisch nicht existent zu betrachten.

2018

Scharf 2018: Invasive Pränataldiagnostik – Abortrisiken reevaluiert. Übersichtsarbeit zum Thema unter Würdigung der aktuellen Datenlage

Malan 2018: RCT (Randomised controlled Trial – höchstes wissenschaftliches Beweisniveau). Vergleich Fehlgeburtsraten zwischen einer NIPT-untersuchten Punktions-Gruppe gegenüber einer direkt (ohne vorherige NIPT-Untersuchung) punktierten Gruppe. Es fand sich in der NIPT-Gruppe kein Effekt einer Abortrisikoreduktion gegenüber der konventionell punktierten Gruppe

2017

Wah 2017: Monozentrische Fall-Kontroll-Studie von knapp 2.000 CVS-Untersuchungen. Eingriffsspezische Fehlgeburtsrate bei CVS beträgt 0,17 % (1:588) nach entsprechender statistischer Adjustierung (Subtraktion des Schwangerschaftsalter-abhängigen natürlichen Fehlgeburts-Hintergrundrisikos).

2016

Wulff 2016: Ergebnisse einer landesweiten (nationalen) prospektiven multizentrischen Kohortenstudie, durchgeführt über einen Erhebungszeitraum von 3 Jahren an knapp 150.000 Schwangeren, die sich einem kombinierten Ersttrimesterscreening nach Nicolaides unterzogen hatten. In der Studie von Wulff waren die kalkulierten Risiken für eine Fehlgeburt sowohl in der Gruppe von Schwangeren, die sich nach durchgeführtem ETS einer AC, wie auch bei denjenigen, die sich einer CVS unterzogen, nicht höher als die in einer punktionsfreien Kontrollgruppe. Kalkulatorisch lag das CVS-bezogenen Fehlgeburtsrisiko bei 1 zu unendlich.

2015

Akolekar 2015: Metaanalyse von mehr als 40.000 Fällen von Amniozentese und knapp 9.000 Fällen von CVS: Hier wurden die gewichteten eingriffsbezogenen Fehlgeburtsrisiken auf 0,11 % (1:909) für die AC und 0,22 % (1:454) für die CVS berechnet. Die Autoren schlussfolgern hieraus, dass die tatsächlichen eingriffsbezogenen Fehlgeburtsrisiken bei AC und CVS deutlich niedriger sind als bisher berichtet („much lower than are currently quoted“)

Dissertation Schneidermeier, LMU München 2015: Abortrate Amniozentese im eigenen Kollektiv 0,15% (=0,0015 = 1:650), Abortrate CVS im eigenen Kollektiv 0,21% (=0,0021 =1:475), Studienzeitraum 2000-2010

2011

Akolekar 2011: In einer Gesamt-Untersuchungskohorte von 33856 Fällen weder für Fehlgeburten noch für IUFT-Fälle messbarer Unterschied zwischen der CVS-Gruppe (n=2396) und der punktionsfreien Kontrollgruppe nachweisbar

2008

Odibo 2008: Retrospektive Kohortenstudie 1990-2006. Hier fand sich für die Amniozentese (AC) eine eingriffsspezische Abortrate von 0,13 % (1:769)

Odibo 2008: Bei der wird CVS kein messbarer Risikounterschied zu einer eingriffsfreien Kontrollgruppe beobachtet

2007

ACOG-Richtlinie ACOG Practice Bulletin No 88, Dezember 2007: Die Abortrate nach einer zum konventionellen Zeitpunkt durchgeführten Amniozentese ist niedriger als 1 in 300-500 (= niedriger als 0,2% (0,002)). In erfahrener Hand liegen die Abortraten bei CVS im gleichen Bereich.

Mazza 2007: Kein statistisch nachweisbarer Effekt der Amniozentese auf die Abortrate (Cross-sectional Study, n= 5043 Amniozentesen, Studienzeitraum 1997-2003)

2006

Eddleman 2006: Die eingriffsbedingte Fehlgeburtsrate der Amniozentese liegt bei 0,06%. Somit existiert kein signifikanter Unterschied zwischen der Abortrate nach Amniozentese und ohne Amniozentese!

2004

Seeds 2004: Metaanalyse der Punktionsphase der Jahre 1976 bis 2002: Die eingriffsbedingte Abortrate einer zeitgemäß durchgeführten Amniozentese mit gleichzeitiger Ultraschallkontrolle ist mit einer verfahrensbedingten Schwangerschaftsverlustrate von 0,33% (95% CI, 0,09, 0,56) in einem Vergleich aller Studien mit verfügbaren Kontrollpersonen verbunden. Unter den ausschließlich kontrollierten Studien beträgt die verfahrensbedingte Verlustrate 0,6% (95% KI, 0,31, 0,90). Um die Gesamtverlustrate zu ermitteln, muss diese Verlustrate zu der berichtetennatürlichen Verlustrate von 1,08% ohne Amniozentese bei den Kontrollpatienten addiert werden.

Kontakt für Journalisten: Pressestelle Berufsverband niedergelassener Pränatalmediziner e.V. (BVNP)

Icon

Frau Dr. Andrea Debrus
Höhlenweg 17
53125 Bonn

Icon

0228 2436512

Icon

0228 2436509

Icon

info@bvnp.de